Anno Goldschmid
Vorstandsmitglied des Zürcher Schriftstellerinnen-
und Schriftsteller-Verbandes ZSV sowie
Mitglied der ProLitteris
Geboren: 1973 im Zürcher Oberland
Lebt und arbeitet: in Zürich
E-Mail: schattenstimme(at)gmx.ch
Ihr Erstling »Die Schattenstimme« ist ein Ich-Roman und scheint sehr persönlich zu sein. Wieviel gibt der Roman von Ihnen preis?
Sehr viel - und doch auch wieder nichts. Trotz der gewählten Perspektive entspricht keine der Figuren mir selbst. Zum Glück! Keine der Erzählerinnen ist mir sonderlich sympathisch, und ich würde
keine von ihnen sein wollen. Auch die Geschichte, die Handlung, ist frei erfunden. Dennoch habe ich natürlich in alle Figuren Eigenes hineingelegt, und auch die Atmosphäre, die Empfindungen, das
Lebensgefühl, dies alles ist mir vertraut.
Warum wählen Sie Figuren, noch dazu Erzählfiguren, die Sie nicht mögen?
Ich weiß nicht, ob ich behaupten kann, dass ich die Figuren nicht mag. Immerhin haben sie mich interessiert, über eine sehr lange Zeit, und ein solches Interesse setzt wohl immer eine Art von
Liebe voraus.
Dennoch, warum lassen Sie ausgerechnet Figuren, die Sie unsympathisch finden, durch die Geschichte führen?
Weil sie ein Stück Wirklichkeit sind. Und weil ich mich mit genau dieser Wirklichkeit befassen wollte. Was ich abbilde, ist eine kleine kranke Welt, in der jede der Figuren gefangen ist. Sich
herauszulösen, das ist dem Leser, der Leserin überlassen.
Für mich gehört dieses Gefangensein der Erzählfiguren wesentlich zur Geschichte. Es ist Teil ihrer Glaubwürdigkeit. Meine Freiheit als Autorin ist ja weit weniger groß, als die Leute gemeinhin
denken. Die Figuren haben von Anfang an ein Eigenleben, dem ich mich unterordnen muss. Jede Figur denkt und handelt auf ihre ganz bestimmte Weise, sie hat ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen; an
diese bin ich als Schreiberin gebunden. Genauso zwingend, wie ich an die Erzählperspektive gebunden bin, wenn ich mich einmal für eine entschieden habe.
Haben Sie Reaktionen auf das Buch erhalten?
Ja, und zwar in beide Richtungen: Es gab sowohl begeisterte als auch ablehnende Stimmen.
Für mich als Autorin ist es sehr spannend, die Wirkung des Textes kennenzulernen, besonders dann, wenn sich die Rückmeldungen stark unterscheiden. Mit jeder Stimme eröffnet sich ein neuer Zugang
zum Text. Plötzliche sehe ich Dinge, die mir bisher entgangen sind: Einzelheiten ebenso wie größere Zusammenhänge, durch die sich mein Textverständnis vertieft. Ich bin ja nicht nur Verfasserin,
sondern auch Leserin meines eigenen Textes - allerdings eine denkbar schlechte, da ich so voreingenommen bin wie niemand sonst. Und an genau diesem Punkt können mir fremde Augen
weiterhelfen.
Was ist ein gutes Buch?
Auf diese Frage habe ich keine einfache Antwort. Von einem Buch erwarte ich natürlich zunächst einmal, dass es mich unterhält, es muss in irgendeiner Weise spannend sein. Wobei meist weniger die
Handlung als vielmehr die Sprache und die Sprachbilder ein Buch interessant machen. Darüber hinaus soll das Buch mich beschäftigen, über das reine Lesen hinaus. Es muss etwas in mein Inneres
pflanzen, das bestehenbleibt, vielleicht weiterwächst. Oftmals haben sich jene Bücher als die wertvollsten erwiesen, die auf den ersten Blick nicht zu den besten und schönsten gehörten. Die mich
ein Stück weit ratlos zurückgelassen haben. Die an mir nagten.
Welches Buch es schafft, einen so tiefen Eindruck zu hinterlassen, das liegt aber nicht zuletzt an mir selbst: an meiner persönlichen Vorliebe, an meiner Lebensphase, an der gegenwärtigen
Verfassung. Was und wieviel ein Text zum Klingen bringt, welcher Ton wie verstärkt wird, das hängt vom Resonanzkörper ab. So kann, was den einen langweilt, für eine andere sehr spannend sein. Aus
diesem Grund kann ich nur für eine möglichst große Vielfalt in der Bücherwelt plädieren.
Macht das Schreiben Spaß?
Spaß würde ich es nicht nennen. Es ist ein bisschen Inspiration und viel harte Arbeit, ein fortwährendes Ringen, jedenfalls nichts, was mir leicht von der Hand ginge. Oft habe ich eher das
Gefühl, einer verborgenen Quelle mühsam Wort um Wort abtrotzen zu müssen.
Manchmal ist die Arbeit geradezu schrecklich: dann, wenn ich nicht vom Fleck komme, wenn ich an einer bestimmten Stelle steckenbleibe, während Tagen, während Wochen. Das kann sehr quälend sein.
Umso schöner ist dafür dann das Hochgefühl, wenn sich plötzlich eine Lösung zeigt, wenn das Hindernis schließlich überwunden ist. Und dieses Ringen und Überwinden ist es wahrscheinlich auch, was
mich am Schreiben fasziniert und erfüllt. Es nährt eine dem Menschen innewohnende Lust: die Lust, sich an einer Grenze so lange zu versuchen, bis sie durchbrochen ist.
Wann wissen Sie, dass ein Wort passt, dass ein Satz, ein Abschnitt gelungen ist?
Dies ist interessanterweise - obwohl das Schreiben ein primär geistiger Vorgang ist - ein zutiefst körperliches Gefühl. Mir signalisiert der Bauch, dass das Wort sitzt. Es ist, als hätte der Leib
eine Vorstellung von einem guten Text, und der Verstand sucht nach Möglichkeiten, dieser Vorstellung gerecht zu werden. Überhaupt habe ich weniger das Gefühl, einen Text zu erschaffen, die
Urheberin zu sein, sondern vielmehr: einen Text zu finden. Und ihn auf Papier zu bannen. Ich bin nur eine Mittlerin von etwas, was auch ohne mich existiert, von etwas Größerem,
Umfassenderem.
Was braucht es, um diese Arbeit tun zu können?
Ruhe. Tage, besser Wochen und Monate, in denen sich nichts ereignet, es nichts zu erledigen gibt, keine Pflichten, keine Störung, keine Ablenkung, einfach nichts. Tage des Alleinseins, in denen
sich eine ganz bestimmte Art von Langeweile breitmacht. Sie gibt der inneren Stimme Raum, sich zu entfalten. Leider sind solche Tage in unserer Zeit eine Seltenheit geworden. Es ist schwer, zur
Ruhe zu kommen, ein ruhiges Leben zu führen - besonders für dünnhäutige Menschen.
Für meine Mitmenschen bin ich wohl eher mühsam, vielleicht irritierend, weil ich so wenig Kontakt suche. Für mich ist diese Zurückgezogenheit jedoch notwendig, wenn ich ernsthaft schreiben will.
Sie ist der Preis, den ich für meine Arbeit bezahle - und zugleich der Lohn. Ich liebe die Stille und das Alleinsein. Den Reichtum, der sich in diesem Zustand offenbart.
Wann wussten Sie, dass Sie schreiben wollen?
Den Gedanken daran hatte ich früh, als Kind, sicher aber mit sechzehn, siebzehn, da wusste ich, dass das Ringen um einen künstlerischen Ausdruck existentiell zu meiner Person dazugehört. Dass
darin meine Aufgabe und meine Erfüllung liegt. Zu jener Zeit traute ich diesem Gefühl aber noch nicht, zumal mir von allen Seiten klargemacht wurde, dass vom literarischen Schreiben kaum jemand
leben könne. Was natürlich stimmt - unsere kopflastige und technikbesessene Gesellschaft weiß die Arbeit all jener nicht wertzuschätzen, die sich um die Seele der Gesellschaft
kümmern.
Ist es deshalb töricht, dass ich diesen Weg eingeschlagen und ihn trotz all der Widrigkeiten immer weiterverfolgt habe? Vielleicht. Vielleicht zeigt es aber auch, wie stark der innere Drang zum
Schreiben ist. Für mich gab es nie eine Alternative. Ich habe keine Vorstellung, was ich sonst mit meinem Leben Sinnvolles anfangen könnte. Und am Ende unseres Lebens ist das, was wir mit unserer
Zeit angefangen haben, kostbarer als aller Reichtum, Luxus und Ruhm.